Als um die Mitte des 19. Jahrhunderts die Textilindustrie in Schüttorf aufblühte, entstand zwischen dem neuen Vechtearm und der heutigen Fabrikstraße der Fabrikkomplex des Schüttorfer Textilunternehmens Schlikker (ab 1910 Schlikker & Söhne). Es dauerte nicht lange, dann erstreckte sich das Werksgelände auch auf das südlich der Fabrikstraße gelegenen Stadtgebiet, so dass der gesamte Fabrikkomplex fast halb so groß war, wie die damalige Innenstadt. Heute stehen dort nur noch zwei Gebäude, das alte Baumwolllager und ein kleineres langgestrecktes Haus, das im Laufe seiner Geschichte vielfältig genutzt wurde: der Jammer.
Vom Arbeiterwohnhaus zum Sitz des Bürgermeisters
Woher der Name „Jammer“ stammt, ist historisch leider nicht belegt. Ältere Schüttorfer sagen, das Haus habe immer so geheißen. Auf die Frage nach dem Warum, bleiben sie aber die Antwort schuldig. Vielleicht, weil der Jammer gegen Ende des 19 Jahrhunderts als Wohnhaus für Fabrikarbeiter gebaut worden war. Mit sehr einfachen und engen Wohnungen. Ohne Wasseranschluss, Bad oder Toiletten. Zeitweilig leben dort mindestens vier Familien mit ihren Kindern. Auch der Kutscher der werkseigenen Spedition hatte hier sein Domizil, weil gleich nebenan die Pferdeställe und die Remise für die Pferdewagen errichtet worden waren. Auch in Nordhorn gab es ein Wohngebäude für Arbeiter, das im dortigen Volksmund „langer Jammer“ genannt wurde.

Auf dem wohl ältesten Foto des Textilunternehmens Schlikker, das um 1890 aufgenommen wurde, ist der Jammer rechts schon zu sehen.
Als in den 1950/60er Jahren die Betriebswohnungen im Jammer nicht mehr benötigt wurden, diente er eine Zeitlang als Material- und Lagerraum für die Zimmerleute von Schlikker & Söhne. Später wurde dann für den Betriebsarzt ein Zimmer eingerichtet, in dem er seine Sprechstunden für die Werktätigen des Unternehmens abhielt. Nachdem die Zimmerleute den Jammer verlassen hatten, wurden ihre Räume für den Werksverkauf von Stoffen und Textilien genutzt.
Der Jammer macht Schule
Ende der 1960er Jahre fand an einigen Wochentagen im Jammer der „theoretische“ Unterricht für die jungen Schüttorfer statt, die bei Schlikker & Söhne zu Webern oder Spinnern ausgebildet wurden. Sie wurden von Meistern oder Facharbeitern, die einen Ausbildungsausweis erworben hatten, in allen Belangen rings um die Verarbeitung von Baum- oder Zellwolle unterrichtet.

Leider ist der Hausstein des Jammers schon recht verwittert und teilweise hinter einem Regenwasserabflussrohr verborgen. Ein Baujahr ist für mich (mehr) nicht zu erkennen.
Arbeitsplatz des Bürgermeisters
Auch der Betriebsrat von Schlikker & Söhne hatte später im Jammer seine Büroräume. Hier organisierte der freigestellt Betriebsratsvorsitzende Hermann Brinkmann die Interessenvertretung der Belegschaft. Brinkmann war gelernte Spinner und genoss hohes Vertrauen und Ansehen bei seinen Kolleginnen und Kollegen. Von 1972 bis 1988 war er dann Bürgermeister der Stadt Schüttorf. Er hatte es nicht weit von seinem Arbeitsplatz zum Rathaus.
Mit dem Aus begann der Abriss
Als im Jahr 1990 des Unternehmen Schlikker & Söhne in die Insolvenz ging, wurde zunächst die Produktion der Spinnerei eingestellt, später erfuhr auch die Weberei das selbe Schicksal. In wenigen Monaten verloren fast 1.000 Schüttorfer*innen ihren Arbeitsplatz. Zurück blieben leerstehende Fabrikationshallen. Ein Investor aus Ostfriesland kaufte das Areal und errichtete auf dem Gelände der ehemaligen Weberei und in dem Gebäude der alten Spinnerei das heutige Handels- und Dienstleistungszentrum „Vechtecenter“. Um das alte Werksgelände südlich der Fabrikstraße auch vermarkten zu können, wurden viele alte Betriebsgebäude abgerissen. Lediglich das alte Ballenlager und der mittlerweile unter Denkmalschutz gestellte Jammer blieben vom Abriss verschont.

Mit der Fertigstellung des Vechtezentrums wurde das Kopfsteinpflaster der Fabrikstraße, das ebenfalls unter Denkmalschutz steht, mit einer Asphaltdecke überzogen. Rechts sind noch die ehemaligen Remisen für die Pferdefuhrwerke zu sehen. Das Foto entstand 2009.
Ein Bild des Jammers
Zu Beginn des 21. Jahrhunderts entschloss sich die Stadt Schüttorf, dieses Gelände dem Investor abzukaufen. Mit großen Aufwand und für viel Geld wurde der Boden des Geländes 2013 wegen hoher Schadstoffbelastungen abgetragen und neu aufgefüllt. Schon damals lagen Pläne auf den Tisch, auf diesem Gelände, vor allem im alten Ballenlager, ein soziokulturelles Zentrum zu errichten. Damit die schon reichlich in Mitleidenschaft gezogene Bausubstanz der verbliebenen Gebäude nicht noch weiter verfallen sollte, wurde beschlossen, den Jammer und das Ballenlager wetterfest zu machen. Leider haben die Maßnahmen, so sie denn ergriffen wurden, nicht gereicht, um den Verfall aufzuhalten. Heute bieten beiden Gebäude einen so trostlosen Anblick, dass vielen Bürger*innen ihre Erhaltenswürdigkeit als äußerst gering erscheint.

Dieses Bild entstand 2013. Schon damals war der zunehmende Verfall des Hauses deutlich zu erkennen. Leider haben die Maßnahmen zur „Wettersicherung“ nicht viel gebracht, diesen Prozess zu stoppen.
Mit der Teestube 2.0 soll ein neues Kapitel des Jammers aufgeschlagen werden
Seit geraumer Zeit steht heute fest, dass der alte Jammer Bestandteil des neuen Komplex sein soll. Hier wird ein Treffpunkt für die Bürger*innen Schüttorfs entstehen. In Anbetracht des augenblicklichen Zustandes braucht es aber viel Fantasie, um sich vorzustellen, dass die alten Mauern des Jammers in ein paar Jahren mit neuem Leben gefüllt sein können. Und es wird eine Menge Geld kosten, ihn in einem völlig neuen Glanz erstrahlen zu lassen.
Über die Zukunft des alten Ballenlagers hingegen ist noch nicht entschieden worden. Es mehren sich allerdings die Stimmen, dass ein Abbruch wohl die einzige (wirtschaftliche) Option wäre. Damit würde noch ein Stück Schüttorfer Industriegeschichte aus dem Stadtbild für immer verschwinden. Ich würde es bedauern.
Fotos: Heimatverein Schüttorf, Stadtarchiv Schüttorf, privat
Quellen: u.a. Der Grafschafter Sept./Okt. 2013, www.schuettorf.de, Rats- und Bürgerinformationssystem der Samtgemeinde Schüttorf