In den ersten Jahrhunderten nach der Verleihung der Stadtrechte war Schüttorf eine prosperierende Stadt. Nicht nur die Zahl der Einwohner stieg, auch der Wohlstand der Bürger wuchs. Das änderte sich spätestens mit den schrecklichen Wirren des 30-jährigen Krieges. Wie in vielen anderen Städten und Regionen auch kam das wirtschaftliche und soziale Leben in der Grafschaft Bentheim fast zum Erliegen. Hunger, Armut, Krankheit und Elend bestimmten den Alltag der Menschen. Insbesondere diejenigen, die sowieso nicht viel hatten, waren davon betroffen.
NOT UND ELEND DER NACHGEBORENEN
Erschwerend hinzu kam das traditionelle Erbrecht, das in Stadt und Land noch vorherrschte. Es sorgte dafür, dass viele Kinder von besitzenden Bürgern und Bauern nach Vollendung ihrer Kindheit praktisch mittellos waren. Denn Haus und Hof erbte nur der älteste Sohn, oder im Ausnahmefall die älteste Tochter. Die Geschwister des Erben konnten im Haus oder auf dem Hof bleiben, wenn sie für geringen Lohn bei der Arbeit mit anpackten, oder sie verdingten sich als Dienstmädchen oder Knechte bei anderen wohlhabenderen Bürgern oder Bauern. Viele nachgeborene Söhne hingegen gingen – wenn sie ein Handwerk erlernt hatten – entweder auf Wanderschaft oder zogen in andere Städte.
HOLLAND WAR DAS LAND DES WOHLSTANDS
Insbesondere den vielen Heuerleuten blieb angesichts hoher Pachtzinsen und geringer Ernteerträgen nichts anderes übrig, als ihr Geld in anderen Ländern zu verdienen. Einige von ihnen wanderten ganz aus, die meisten aber gingen nach Holland, um dort als Arbeitsmigranten für den Lebensunterhalt ihrer Familien zu sorgen. Ab dem Ende des 16. Jahrhunderts wurden die Niederlande zur führenden See- und Handelsmacht in Europa. Die hierzulande noch weitverbreitete Leibeigenschaft und jede Art von Frondienst waren in den Niederlanden weitgehend abgeschafft. Jeder konnte sich, wo immer es ihn beliebte, niederlassen oder eine Familie gründen. Bis weit in das 18. Jahrhundert hinein blieben die Niederlande einer der führenden Nationen im Welthandel, dementsprechend blühte auch seine Wirtschaft. Mit der Folge, dass eine große Landflucht in die Hafen- und Küstenstädte einsetzte, wo man einfach mehr Geld verdiente. Die insbesondere zum Nordwestdeutschen Raum vergleichsweise hoch entwickelte Landwirtschaft konnte ihren Bedarf an Arbeitskräften nur noch mit Hilfe von Arbeitsimmigranten decken.
HARTE ARBEIT FÜR SAISONARBEITER
Die als Hollandgänger bezeichneten saisonale Lohnarbeiter arbeiteten als Tagelöhner, zumeist vom Frühjahr bis Herbst als Mäher in den Wiesen und auf den Feldern, oder sie schufteten als Torfbereiter in den ausgedehnten Mooren. Die mit handwerklichen Fähigkeiten verdienten ihr Geld als Maurer, Tischler, Zimmerleute, Leimkocher, Gärtner oder Weber. Es gab aber auch einige Hollandgänger, die den Verlockungen einer guten Heuer und auch vieler Abenteuer nicht widerstehen konnten und als Seeleute bei der Holländischen Ostindienkompanie anheuerten. Andere hingegen betätigten sich als Kleinhändler, die Wolllaken, Flachsleinen aber auch landwirtschaftliche Produkte verkauften. Wenige hingegen blieben ganz in Holland oder zogen von dort aus weiter in die holländischen Kolonien.
Die Hollandgänger aus dem Grafschafter Raum waren wohl überwiegend in der holländischen Landwirtschaft und in den dortigen Moorgebieten tätig. Vielleicht, weil sie für diese Arbeiten die einschlägigen Vorkenntnisse aus der Heimat mitbrachten.
HARTE LEBENS- UND ARBEITSBEDINGUNGEN
Das Mähen gehörte zu den anstrengendsten Arbeiten , die die Hollandgänger zu verrichten hatten. Hierfür wurden deshalb auch meist jüngere und kräftige Arbeiter eingesetzt. Das galt auch für die Zieher bei den Torfarbeiten. Die Zieher zogen mit Hilfe einer langen Stange, an der unten ein Beutel befestigt war, das feuchte Moor aus einer Tiefe von manchmal 15 – 18 Fuß und warfen es an Land. Dort wurde diese Masse von den Pressern in Formen abgefüllt und zum Trocknen ausgelegt. Die Mäher und Torfarbeiter erhielten wegen der körperlich schweren Arbeit in der Regel zwar eine bessere Verpflegung, dafür mussten sie aber unter besonders gesundheitsschädlichen Bedingungen ihre Arbeit verrichten. Sie standen oft von morgens bis abends knietief im Wasser. Früh morgens war es dabei oft bitterkalt und am Nachmittag waren sie der heißen Sonne schutzlos ausgeliefert. Längere Pausen bei der Arbeit gab es nur zu Mittag. Sie dauerte meist eine halbe Stunde und wurde gern für ein kurzes Nickerchen genutzt. Kein Wunder also, dass viele krank wurden. Unter Rheumatismus, Gicht, Lungenleiden und bakterielle Infektionen litten viele von ihnen.
GELD ZUM ÜBERLEBEN
Weil es den Hollandgänger vor allem darauf ankam, viel Geld zu verdienen und es mit nach Hause zu bringen, gaben sie selber wenig Geld für Essen und andere Dinge des täglichen Lebens aus. Denn ein Großteil der Hollandgänger musste sich selbst verpflegen und auch selber für eine Unterkunft sorgen. Vielfach nahmen sie von zu Hause schon etwas Proviant mit auf ihre Wanderschaft. Waren diese Lebensmittel aufgebraucht, bereiteten sie sich einfaches Essen wie Buchweizenpfannekuchen, Grützen oder Roggenbrot zu. Gegen den Durst tranken sie saure Milch, dünnes Bier und Branntwein. Auch die Unterkünfte der Hollandgänger war sehr bescheiden. Sie schliefen in Scheunen oder kleinen Strohhütten, machnmal unter freiem Himmel oder in kleinen Erdlöchern, die nur notdürftig gegen Regen und andere Niederschläge geschützt waren.
Um Geld für die Daheimgebliebenen zu verdienen nahmen sie zudem noch in Kauf, dass viele von ihnen nicht in der Lage waren, eine eigene Familie zu gründen. Die Verheirateten hingegen waren monatelang von ihren Frauen und Kindern getrennt. Zudem genossen sie als „Fremdarbeiter“ in Holland weniger Rechte als die Einheimischen und waren nicht selten der Willkür ihrer Brotherren schutzlos ausgeliefert. Hinzu kam, dass sie nicht selten mit diskriminierenden Vorurteilen seitens der einheimischen Bevölkerung ausgesetzt waren. Aber die Hollandgänger wussten auch, dass viele Menschen in Schüttorf und den benachbarten Orten und Gemeinden auf das Geld angewiesen waren, das sie nach monatelanger harter Arbeit mit nach Hause brachten.
DER WEG ZUR ARBEIT DAUERTE TAGE UND WOCHEN
Die Hollandgänger brauchten manchmal Tage und Wochen, um bis zu ihrer Arbeitsstätte zu gelangen. Wenn die Hollandgänger auf Wanderschaft gingen, trugen die meisten von ihnen einen großen Reisesack mit sich. Der enthielt neben dem Proviant für mehrere Tage oder Wochen, ihren Arbeitsanzug und etwas Leibwäsche. Vielfach wurde auch Werkzeug mitgenommen, denn das wurde oftmals nicht vor Ort gestellt und musste dann von den Hollandgängern zu überteuerten Preisen erworben werden. So nahmen Hollandgänger, die zum Mähen oder Ernten nach Holland gingen, häufig ihr eigenes Sensenblatt mit. Einen passenden Stil konnte man sich in Holland dann für kleines Geld kaufen. Auf ihren Weg zu den holländischen Arbeitsstätten schlossen sich viele Hollandgänger zu kleinen Gruppen zusammen. Hin und wieder hatte einer von ihnen eine Handorgel oder Schalmei dabei, mit der etwas gute Stimmung bei der Wanderschaft gesorgt wurde.
Viele Hollandgänger gingen zu Fuß, manchmal wurden sie auch Fuhrwerken mitgenommen, natürlich gegen ein entsprechendes Entgelt. Andere hingegen versuchten gegen Bezahlung von den Schiffen, die über die Vechte oder die Dinkel nach Westen fuhren, mitgenommen zu werden. Fast alle Hollandgänger arbeiteten während der Saison nicht nur bei einem „Arbeitgeber“, sondern zogen in Holland umher, immer gerade dorthin, wo man sie brauchte.
Um mit ihren Familien in Schüttorf in Kontakt zu bleiben, schrieben viele Hollandgänger auch kleine Briefe oder Depeschen an Zuhause, die u.a. von den Schüttorfer Stadtboten überbracht wurden. Auf umgekehrten Wege schickte man auch Grüße aus Schüttorf nach Holland. Dass der Weg nach Holland und auch wieder zurück nicht ungefährlich war, belegt ein grausiges Verbrechen, das an einem Hollandfahrer zu Beginn des 19. Jahrhunderts auf Helpers Höhe in Quendorf gegangen wurde. Er fiel einem Raubmord zum Opfer. Der Täter hatte es auf seinen Geldbeutel abgesehen. Der Raubmörder wurde aber geschnappt und an der Stelle, wo er das Verbrechen begangen hatte, durch das Schwert hingerichtet.
WEHE DEM, DER KRANK WURDE
Besonders hart traf es die Hollandgänger, die während ihrer Arbeit in den Niederlanden krank wurden. Eine Versorgung von Kranken vor Ort war vielfach von den Niederländern nicht gewünscht. So mussten die erkrankten Hollandgänger vorzeitig ihre Rückreise antreten. Nicht selten wurden sie mit sogenannten Krüppelfuhrwerken abtransportiert. Krüppelfuhrwerke waren einfache Leiterwagen, die mit Stroh ausgelegt waren, auf das die Kranken niedergelegt wurden. Die Fuhrwerke fuhren meist nur bis zur nächst gelegenen Ortschaft. Unterweg sammelten sie auch weitere Kranke auf. In der Ortschaft angekommen mussten die Kranken dann von Fuhrwerk absteigen und darauf warten, dass ein neues Fuhrwerk für den Weitertransport bereitstand. So ging es dann etappenweise bis in die Heimat. Nicht wenige kranke Hollandgänger überlebten diesen Transport nicht.
AUCH VIELE SCHÜTTORFER WURDEN ZU ARBEITSMIGRANTEN
Wie viele Schüttorfer als Hollandgänger ihren Lebensunterhalt bestritten ist nicht genau überliefert. Ihre Zahl mag auch geschwankt haben. Bekannt ist, das noch im Jahr 1811, als die Zahl der Hollandgänger schon stark rückläufig war, über 345 Hollandgänger in der Grafschaft gezählt wurden. 110 von ihnen kamen aus Schüttorf, 116 aus Gildehaus und 60 aus Bentheim. Geht man davon aus, dass zu Beginn des 19. Jahrhunderts nur rund 600 Männer im arbeitsfähigen Alter in Schüttorf leben, so machte sich damals noch fast jeder Fünfte von ihnen Jahr für Jahr auf den Weg nach Holland. Zum Höhepunkt der Hollandgängerei gegen Ende des 18. Jahrhunderts zogen etwa 30.000 bis 40.000 Arbeitskräfte aus Nordwestdeutschland als Wanderarbeiter in die Niederlande.
Erst als sich die wirtschaftliche Lage in der Grafschaft und auch in Schüttorf mit dem Aufkommen der Textilindustrie spürbar verbesserte und hier händeringend Arbeitskräfte gesucht waren, ging die Zahl der Hollandgänger drastisch zurück.
HOLLANDGÄNGERN WIRD WENIG BEACHTUNG GESCHENKT
Die Hollandgänger waren Jahrhunderte lang ein wichtiger Wirtschaftsfaktor im Leben den Menschen in der Grafschaft. Sie bewahrten nicht nur zahlreiche Familien vor der totalen Verelendung oder sogar dem Hungertod, sie steigerten durch ihre Devisen auch die Kaufkraft der Menschen in unseren Dörfern und Städten. Nicht zuletzt waren Hollandgänger gern gesehene Gäste in den Wirtshäusern der Städte und Dörfer. Denn ein nicht geringer Teil des Lohns floss bei so manchem „Gastarbeiter“ direkt durch die durstige Kehle in die Taschen der Wirte.
Bedauerlicherweise wird bei uns den Hollandgängern, obgleich man ihnen vieles zu verdanken hat, nur wenig öffentliche Aufmerksamkeit und Wertschätzung entgegengebracht. Nur in der kleinen Stadt Uelsen hat man ihnen mit der Bronzefigur des „Pickmäijers“ ein Denkmal gesetzt. In der Schüttorfer Geschichtsschreibung tauchen sie meist nur als Randnotiz auf. Dabei hätten sie viel mehr Beachtung verdient.
Quellen: Der Grafschaft 1997 und 1997, Berge und Scheurmann, unveröffentlichte Manuskripte im Stadtarchiv Schüttorf, Emslandmuseum Lingen (euregio-history.net/de), Familienforschung Tecklenburger Land (www.te-gen.de), www.heuerleute.de
Fotos: Wikipedia, Titelbild: Original im Emslandmuseum Lingen, Dr. Andreas Eiynck (Emslandmuseum Lingen)